Chamäleon

Chamäleon

Es gibt sie. Die Momente, in denen ich mir denke: „Okay, das kannst du jetzt einfach nicht mehr so wie früher.“
Früher. Das ist die Zeit vor der Diagnose. Die Zeit vor der Ärzte Odysse und die Zeit, in der ich mit Begriffen wie: Kortison, Myelin und Schubrate noch nichts anfangen konnte. Blutabnehmen war mit das Schlimmste, was ein Arzt von mir verlangen konnte.

Diese Momente, wo auch ich mal verzweifle, in Selbstmitleid bade oder mir die böse Frage stelle: „Warum Ich?“
Klar, die MS hat mir auch viel gezeigt, gelehrt und wertvolle neue Blickwinkel mitgebracht. Aber es gibt eben auch die andere Seite.
Die Seite, von der ich nicht gerne spreche. Die Seite, von der nur wenige Menschen in meinem Umfeld etwas mitbekommen.
Jemand lacht, weil ich es auch beim dritten Versuch nicht schaffe, die Seite umzublättern. Ich lache mit. Ich lache mit und denke: Ich kann nichts dafür, ich kann diese Seite wirklich gerade nicht umblättern. Es fällt nicht auf, wenn ich dann aufgebe und jemand anderem das Buch in die Hand drücke zum umblättern, wenn ich einfach dazu sage: „Ach man, das ist doch doof, mach du mal!“

Meine MS. Mein kleines Chamäleon. Ich spüre, dass sie da ist, aber sie kann sich wunderbar vor fremden Augen verstecken.

Einige Tage, merke ich sie weniger, andere Tage fällt mir erst im Nachhinein auf, dass einige Sachen nicht mehr so wirklich funktioniert haben, wie ich es früher vielleicht mal konnte. Ich habe mich dann aber jetzt schon so daran gewöhnt, dass es mir erst gar nicht auffällt. Das sind leider die Ausnahmen.

Die MS ist überall dabei, abends im Bett, wenn der Körper zur Ruhe kommt und das Kribbeln in den Gliedmaßen sein Höchstmaß erreicht; beim Fahrradfahren, wenn die Arme und Hände zittrig werden; beim Aus-dem-Kanu-steigen, wenn ich kurzzeitig meine Beine unter mir einfach nicht mehr spüre; beim Spieleabend, wenn das Kartenauslegen zum Konzentrationsakt wird; beim schreiben einer Glückwunschkarte, wenn das Ergebnis einfach aussieht wie von einer Sechsjährigen geschrieben…

All diese Dinge lassen mich in den Momenten, in denen es mir das erste Mal auffällt, nachdenklich werden. Häufig spule ich dann als erstes die typischen MS’ler Fragen in meinem Kopf ab: Hab ich das schon länger? Hält das schon über 24 Stunden am Stück an? Meistens nicht. Dann habe ich wenigstens für den Moment die Gewissheit, dass es kein Schub ist. Dann kommen aber die Gedanken warum das Symptom dann da ist… Viele meiner Symptome habe ich seit den letzten Monaten täglich, aber eben immer nur zeitweise. Das Eine nur beim einschlafen, das Andere nur, wenn ich versuche alles auf einmal zu schaffen.

Und während ich diese Zeilen schreibe, wird mir klar, dass ich sehr gut gelernt habe damit zu leben. Die MS ist nicht immer präsent, es gibt Tage, da vergesse ich sie ganz. Genauso gibt es Tage, wo ich stundenlang an nichts anderes denken kann. Im besten Fall, halten sich diese verschiedenen Gefühle die Wage und ich kann es ganz gut aushalten.
Verrückt, an was für Dinge man sich gewöhnen kann.

„Kraft kommt nicht aus körperlichen Fähigkeiten. Sie entspringt einem unbeugsamen Willen.“

Mahatma Gandhi
pixabay.com

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